Gibt es eine bairische Hoch- und Schriftsprache?

In der gegenwärtigen Diskussion um die Situation der Sprache in Bayern stehen meist die Mundarten im Vordergrund, die Tatsache ihrer Ausdünnung und die Gefahr ihres Verschwindens.


Hier soll aber nicht vom Dialekt die Rede sein, sondern von einer Hoch- und Schriftsprache, wie sie in Bayern angeblich existiert, die jedoch von den Bayern selbst kaum wahrgenommen und von außen bezweifelt wird. Es wird viel darüber geklagt, dass unsere Muttersprache von Anglizismen überschwemmt wird. Tatsache ist aber auch, dass sich im Süden der Bundesrepublik, in Österreich, Südtirol und der deutschsprachigen Schweiz immer mehr Ausdrücke aus dem Norden einnisten. So ist unsere Sprache in den Würgegriff der Anglomanie einerseits und der „Verpreussung“ andererseits geraten.

Mindestens genau so bedenklich wie die derzeitige Anglomanie erscheint die innerdeutsche Schwerpunktverlagerung, bei der das südliche Deutsch ins Abseits zu geraten droht. Dabei hat der Süden des Sprachraums Anleihen aus dem Norden wirklich nicht nötig. In den meisten Bereichen ist das südliche Deutsch ebenso reich entfaltet, wie das nördliche. Viele meinen, das nördliche Deutsch sei das eigentliche Deutsch, sei die bessere Alternative. Und das ist von Grund auf falsch.

Hier wäre zu klären, ob von einer süddeutschen oder geographisch eingeengt, von einer bairischen Hoch- oder Schriftsprache überhaupt die Rede sein kann.

Von den ersten Anfängen der Überlieferung der deutschen Sprache an, also bereits vor dem Jahr 800, setzt sich das bairische von den benachbarten Dialekten ab und das gilt alle Jahrhunderte hindurch, bis ins 19. Jahrhundert. Man denke etwa an die Schriftsprache altbairischer Autoren der frühen Neuzeit und des Barock (Aventinus, Barockprediger und Literat).

Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts geschah es, dass das südliche Deutsch abgekoppelt wurde vom Hauptstrom der Sprachentwicklung. Im Zuge der nationalen Einigung aller deutschen Stämme erfolgte im preußischen Einheitsstaat eine Vereinheitlichung nach der Maßgabe des deutschen Nordens (Konrad Duden 1880, Theodor Siebs 1898). Dabei geriet das südliche Deutsch auf das Abstellgleis der Normwidrigkeiten.

Die Süddeutschen, allen voran die Altbayern, verloren ihr sprachliches Selbstbewusstsein, weil ihnen glaubhaft gemacht wurde, ihr Deutsch sei eine verderbte Abart der Muttersprache und es sei schlichtweg falsch.

Wie gut, dass regionale Formen des Deutschen, unter anderem das bairische Deutsch am Leben geblieben sind, wenngleich viel gescholten von engstirnigen Schulmeistern und geschmäht von vielen hochnäsigen Fanatikern einer Einheitssprache. Die lächerliche Rechtschreibreform unserer Tage hat ein übriges getan, um die Duden-Einheit ins Wanken zu bringen.

Zumindest in Österreich wird ein „grundlegender Wandel in der Gültigkeit einer (einheitlichen) Standardsprache“ konstatiert: „Die Anerkennung des Norddeutschen als Norm hat abgenommen“. Ob solches auch für Altbayern gilt, sei dahingestellt. Sicher ist, dass die scharfe Trennlinie zwischen Hochsprache und dialektnaher Umgangssprache zunehmend verwischt wird, wie sich in der lokalen Presse, zumindest in deren Lokalteilen und in Glossen nachweisen läßt.
Man darf das einerseits als soziale Aufwertung dialektnahen Sprechens und Schreibens werten und andererseits als Aufweichung eines stur an
nördlichen Vorgaben orientierten Standards interpretieren. Ein neues Sprachbewusstsein scheint sich anzubahnen.

Genug dieser allgemeinen Betrachtungen, es geht um einen Nachweis der Existenz einer bairischen Hoch- und Schriftsprache.
Was macht das bairische Deutsch aus? Es manifestiert sich auf sämtlichen Ebenen: in Aussprache, in der Formenlehre, im Satzbau, usw.
Dabei sei ausdrücklich festgestellt, dass es sich um keine eigene Sprache handelt. Sie ist eingebettet in das Gesamtdeutsche und deckt, bzw. überschneidet sich vielfach mit anderen Regionalformen und auch mit dem angeblich landschaftsneutralen Standard. Bei etlichen der im Folgenden genannten Merkmale handelt es sich um unspezifische Bavarismen.

Teilweise hat das bairische Deutsch an älteren Sprachzuständen festgehalten oder diese in unterschiedlicher Art weiter entwickelt als andere Regionen, teilweise liegen besondere Einflüsse aus Nachbarsprachen des Südens und Ostens vor, teilweise ist es einfach eigene Wege gegangen. In gewissen Punkten setzt es sich allerdings deutlich als eigenständig ab.

Es scheint sinnvoll, das bairische Deutsch durch das zu definieren, was in Altbayern nicht gilt, wodurch sich die bairische Hochsprache von dem norddeutsch majorisierten Standard abhebt. Es gibt eine große Menge von Lautungen und Wörtern, die hier nicht heimisch sind und von regionalen Sprachbenutzern gemieden werden.

Bei den Konsonanten fehlen die gesamten stimmhaften Verschluss- und Reibelaute: b, d, g, s sind stimmlos. J und w werden halbvokalisch gesprochen, ersteres als nichtsilbisches i, letzteres bilabial. Der harte Stimmeinsatz vor Vokalen fehlt (be-ob-achten).

Das markanteste Charakteristikum im Vokalismus dürften die zwei a-Laute sein. Wie andere deutsche Sprachregionen auch, besitzt das bairische Deutsch einen dunklen und einen hellen a-Laut. Das besondere ist, dass diesen beiden Lauten eine bedeutungsentscheidende Funktion zukommt. (patzig – bátzig, Táxifahrer – Ladenkásse, Staatsexámen).

Die Silbenstruktur folgt eigenen Regeln. So sind die harten Konsonanten p, t, k fest gekoppelt mit kurzen Vokalen. Daher ist der betonte Vokal in Wörtern wie Musik, Politik, politisch, Fabrik, Bandit, dramatisch kurz.

Auch in anderen Punkten weicht das bairische Deutsch von der von dem Norddeutschen Sprachwissenschaftler Siebs geprägten Norm ab. Es heißt nicht Eerde, Gebuurt mit Länge des betonten Vokals, sondern Erde, Geburt. Ebenso ist es bei Behörde, Geste, Krebs, Bart, Jagd, lila, parallel, Matritze. Man sagt nicht Büschschoff, Schäff, Messner, sondern Bieschof, Scheef, Meesner. Viele einsilbige Wörter weisen einen langen Vokal auf, so etwa, voon – biis oder aan, hiin. Den Laut ch im Wortanlaut gibt es nicht. Chemie, China, Chinin, Chirurg beginnen mit einem k und die betonte Endsilbe –on wird nicht –ö oder –ong gesprochen, sondern buchstabengetreu als -on (Salon, Balkon).

Bei zahlreichen Wörtern ist die Wortbetonung anders. Es heißt háuptsächlich, ángeblich, únmittelbar, ábsichtlich, éigentümlich, Neujáhr, Bürgerméister, Óberbürgermeister, Árbeitsbeschaffungsmaßnahme. Das trifft auch für manche Fremdwörter zu. Kaffée, Motór, Telefón, Tunnél tragen den Ton auf der letzten Silbe, Mérkur, Sálbei, Ánis, auf der ersten, und es heißt z. B. Himaláya,, Ammóniak (nicht Himálaya, Ámmoniak).

Besonderheiten ergeben sich auch bei der Aussprache von unbetontem e. Wird ein e der Schriftform folgend ausgesprochen, so erklingt es als volltoniges geschlossenes e (bitte, danke, gegeben). Der konsequente Schwund des unbetonten e zeigt Folgen in der Formenlehre, so etwa bei Verben, in der Endung in der 1. Person Singular, z. B. das schreib ich, aber bei Eigenschafts- und Hauptwörtern: blöd, feig, solid; Au, Einöd Terz, Oktav. Bei Substantiven hat der Abfall des –e mehrfach zum Genuswechsel geführt: der Schurz, Spitz, Schnack, Schneck, Heuschreck, der Socken, das Eck, Email.

Aus dem genannten Grund kommt ein e als verbindendes Element bei zusammengesetzten Wörtern nicht in Betracht. Daher heißt es: maustot, waagrecht, Rufzeichen, Gansjung, Blasbalg. In Schweinsbraten, Hundshütte, Reiberknödel, Pfannenkuchen stehen als Verbindungselemente –s-, -er-, -en-.

Zu den Steckenpferden der Sprachspötter gehören etliche bekannte Genusabweichungen, die auch gern als Demonstrativbavarismen angeführt werden. Als hochsprachlich dürfen z. B. der Gummi, der Dotter, das Taxi, der Tunell, gelten, wohl auch der Radio, während dies für der Butter, der Schoklad, das Marmelad, das Teller u. dgl. nicht zutrifft. Etliche Wörter lauten im Plural um, so etwa Bögen, Wägen, Kästen.

Bei den Wortableitungen sind die bairischen Verkleinerungsformen auf –l und -erl markant, die mit -chen in Konkurrenz treten, oft aber überhaupt kein Gegenstück im „anderen Deutsch“ haben: Kasperl, Schnürlregen, Steckerlfisch, Schwammerl, Schmankerl, Stamperl, Fleckerlteppich. Auch in der verbalen Wortbildung tritt das oberdeutsche l-Element in Erscheinung, so etwa in radeln, garteln, herbsteln, köpfeln, bürsteln, fischeln.

Auf den Wortschatz der bairischen Hoch- und Schriftsprache einzugehen, würde sehr breiten Raum in Anspruch nehmen. Zu nennen wären Dutzende von Fällen, wo eine Umordnung von Wortfeldern vorliegt, so etwa bei schauen und sehen (da schau her / sieh mal an), sperren und schließen (zusperren / abschließen).

In bestimmten Lebensbereichen dominiert das Bairische meist noch relativ unangefochten. So etwa in den Sachgebieten Tages- und Jahreszeiten, natürliche Umwelt, häuslicher Bereich, Pflanzen und Tiere, Speisen und Getränke, Kleidung, körperliche und geistige Befindlichkeiten, sowie im Bereich humoristisch despektierlicher Bezeichnungen.

heuer, in der Früh,
Stadel, Kalbin, Stier, Zugehfrau, Putzhadern, Kübel,
brocken, fieseln, klauben,
Blaukraut, Weißkraut,
Brotzeit, Obatzter, Mass, Spezi, Gwasch, ein Weißes, das Cola, das Limo, der Plempel,
Semmel, Breze, Sulz, Knödel, Weckerl,
schlecken, suzeln,
Haferlschuh, Buckel, buckelkrax, Kopf- Hals-, Bauchweh,
aper, Föhn, Lawine, Latsche, Tunell, kraxeln,
Fasching, Dult, Glückshafen,
strawanzen, schnackseln, stempeln,
die Gaudi, der Spaß, Gschaftlhuber, Katzelmacher, zaundürr,
Glasscherbenviertel, sich aufmandeln,
Depp, deppert,
Fotzen, Watschen.

Zudem gibt es eine Reihe von Verwaltungsbavarismen, also bairische Begriffe im Amts- und Schulbereich. Beispielsweise heißt eine schriftliche Prüfungsarbeit an einer höheren Schule in Bayern nicht Klassenarbeit, sondern ganz amtlich Schulaufgabe. Schulaufgabe aus dem Deutschen lautet die übliche Überschrift. Was daheim angefertigt werden muss, heißt nicht Schularbeiten, sondern Hausaufgabe.

Was den Satzbau anbelangt, ist für das gesamte Oberdeutsche der Gebrauch des Perfekts anstelle des Imperfekts charakteristisch. Dabei deckt sich die Verwendung der Hilfsverben haben und sein nicht immer mit dem „anderen Deutsch“: ich bin gestanden, gelegen; er ist über den See geschwommen, er ist den ganzen Nachmittag geschwommen, ich habe ausgeschlafen.

Infinitivkonstruktionen sind den bairischen Mundarten fremd, daher sind sie auch in der hiesigen Hochsprache seltener als anderswo. An ihre Stelle treten mit dass oder damit eingeleitete Nebensätze, oder mit zum angeschlossene Substantivierungen: Wir trainieren, damit wir gewinnen; er kommt zum Arbeiten; ich gehe zum Essen, und nicht:…um zu gewinnen,…um zu arbeiten; ich gehe essen.

Das Substantiv hat als obligatorischen Begleiter den bestimmten Artikel; er steht daher auch bei Verwandtschaftsbezeichnungen und Eigennamen: Heute kommt die Oma, der Vater, der Alexander.

Über den bloßen Wortschatz hinaus in die Pragmatik hinein reichen Begrüßungs- und Verabschiedungsformeln, sowie die regionstypische Verwendung diverser Partikel: Grüß Gott, auf Wiederschauen; eh, halt, fein, gell, ha usw.

Bei diesen Betrachtungen konnte vieles nur angedeutet werden, vieles ist unerwähnt geblieben. Die Umrisse einer bairischen Hoch- und Schriftsprache wurden aber deutlich. Sie weist vielfach eine Nähe zur Sprache in Österreich und dem Schweizerdeutsch auf. Ähnliches gilt für das fränkische und schwäbische Deutsch. Die Regionalsprachen stellen keine geschlossenen Systeme dar. Sehr deutlich setzt sich aber das südliche Deutsch vom modischen „Nordsprech“ ab, das in den Medien und in Filmsynchronisationen heutzutag vorherrscht und das von nicht wenigen Zeitgenossen für das Standarddeutsche schlechthin gehalten wird.

Sämtliche Regionalformen des Deutschen gilt es zu bewahren. Es sei immerhin daran erinnert, dass viele hochgerühmte Werke der Literatur des späten 20. Jahrhunderts einem regionalen Deutsch verpflichtet sind (Günther Grass, Martin Walser, Herbert Rosendorfer, Robert Schneider). Wenngleich nicht von gleichem Rang, gibt es aber nicht wenige zeitgenössische Autoren, die in bairischem Schriftdeutsch schreiben, so etwa Carl Amery, Wolfgang Johannes Bekh, Robert Hültner, Harald Grill oder Eugen Oker.

Es zeigt von Lebendigkeit, wenn die einen mit vollem Recht ihren Sonnabend gegen den Samstag verteidigen, den Schlachter, Fleischer, Fleischhauer, Selcher, gegen den Metzger. Mit gleichem Recht verteidigen wir unsere Bezeichnungen Semmel, Fleischpflanzl, Knöcherlsulz, Schnack, Orange gegen Brötchen, Schrippe, Bulette, Frikadelle, Sülze, Schnake, Apfelsine.
Das Deutsche darf sich nicht normieren lassen und seinen Reichtum an regionaler Vielfalt wegwerfen. Deutsch ist und bleibt eine Sprache mit verschiedenen Formen. Diese Regionalformen des Deutschen sind keine verkommenen Abarten einer alleinseligmachenden Norm. Mit jeder Nuance, die verschwindet, wird unsere Kultur ärmer. Die Zeit der preußischen Gleichschaltung ist vorbei. Soll es denn der Werbung vorbehalten bleiben, den Reichtum der Bezeichnungen auszuschöpfen, wie das Beispiel der Doppelbeschriftung mit Radler auf der einen Seite der Dose und Alsterwasser auf der anderen demonstriert?

Das Englische leistet sich eine ganze Reihe von Varianten und weder für die Verständigung noch für den Sprachcomputer erwächst daraus ein größeres Problem. Wir wollen kein computergerechtes, uniformes und lebloses Fastfood-Deutsch, keine sprachliche Fertigware, sondern schätzen und lieben eine lebendige, widerspenstige Eigenart, die aus einer Tradition von 12 Jahrhunderten erwachsen ist.

Aus der Tatsache, dass es ein bairisches Deutsch gibt, sind folgende Schlüsse zu ziehen: Es ist zu fordern, dass die gängigen, standardsprachlichen Wörterbücher das regionale Deutsch angemessen berücksichtigen, und zwar in korrekter Form. Wenn sich in der jüngsten Auflage des Duden die Maß (ein Liter) mit langem a und der möglichen Pluralform die Maße findet so liegt der Duden hier gründlich falsch. Richtig wäre die Mass und die Massen. Und wenn Kasperl als österreichische Nebenform zu bundesdeutsch Kasperle bezeichnet wird, so ist das ebenfalls falsch; denn wie in Österreich heißt es auch in Altbayern Kasperl.

Die Zeit der Gleichschaltung mit den Preußen sollte in unserer Sprachgeschichte endgültig vorbei sein. Deutsche Regionalsprachen sind nicht nur am Rande gerade noch zu tolerieren, sondern als gleichwertige Erscheinungsformen des heutigen Deutsch zu akzeptieren. Wie sagt Goethe so treffend in seinen „Maximen und Reflexionen“: „Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein; sie muss zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen.“ Wir Süddeutschen, müssen und wollen uns nicht weiter beleidigen lassen.