Am 26. August 2021 jährte sich der Todestag von Ludwig Thoma zum100. Mal. Der Schriftsteller ist bekannt durch seine realistischen und satirischen Milieuschilderungen, er war ein Freigeist, liberaler Denker und Patriot. Er schrieb über furchtbare Schicksale, Liebesverwicklungen, Familiendramen und die Dachauer Bauern – keine krachledernen Dorfspäße, kein dumpfes Blut- und Bodenpathos, son-dern pralles Leben, Menschenschicksale wie bei Shakespeare. Ludwig Thoma zog gegen verlogene Heuchelei und Duckmäusertum zu Felde, geißelt die Doppelmoral der Sittenwächter und die unheilvol-le Verquickung von Religion und Politik. Dafür wurde er als herausragender bayerischer und deutscher Literat anerkannt, geehrt und gefeiert.1906 musste er in Stadelheim eine 6-wöchige Haftstrafe absit-zen, weil er in seinem Gedicht „An die Sittlichkeitsprediger“ die Kirche beleidigt habe.

Im Jahre 1989 stürzte Ludwig Thoma vom Postament des bayerischen Nationaldichters: Der Piper-Verlag hat 167 Beiträge im Miesbacher Anzeiger in Buchform herausgegeben. Damit wurde ein Bereich in Thomas journalistischem Werk aufgedeckt, der zwar lange bekannt gewesen war, aber nun als dunkle Wolke sich über den Autor und das ganze Werk senkte. Dabei handelte es sich überwiegend um regierungskritische Beiträge; Hauptvorwürfe waren seine oft unflätige Sprache und sein angebli-cher Antisemitismus. Das hätte die gleichzeitige Edition von Thomas - weit umfänglicherer - seriöser Journalistik relativieren können; dem versagte sich der Verlag.

Im Miesbacher Anzeiger bezeichnete er die Weimarer Republik als „Spottgeburt aus Dreck“ und schmähte, jüdische Feuilletonisten und Theaterautoren als „schmierige Lausbuben“. Den Zentrumspolitiker Matthias Erzberger, der 1918 im Auftrag der Reichsregierung den Versailler Vertrag unterzeichnet hatte, nannte er am 17. August 1921 einen meineidigen Lumpen, Urbild der schmutzigen Käuflichkeit, den man aus der anständigen Gesellschaft hinausschmeißen müsste. Am 26. August wurde Erzberger auf offener Straße ermordet, am selben Abend starb Thoma 54-jährig an Magenkrebs.

In seinen Artikeln wandte er sich gegen die damalige Politik und deren Repräsentanten und polemisierte gegen die Berliner und Frankfurter Presse, die sich gegen die nationalen Interessen Deutschlands und vor allem Bayerns richte. Die neuen Zeitungschefs in Berlin seien extrem links gerichtete, bol-schewistische jüdische Redakteure, deren destruktive, antinationale Polemik dürften die „verehrten Staatsbürger jüdischen Glaubens“ nicht mehr hinnehmen. „Es wäre Ihre Pflicht gegen sich und Ihre Angehörigen, von solchen Menschen und ihrem Treiben deutlich abzurücken.“ Die Aufforderung an die konservativen jüdischen Deutschen, sich öffentlichkeitswirksam für eine nationale Politik und Kultur einzusetzen, wird in vielen Artikeln eindringlich wiederholt.

Tatsache ist, dass Thoma mit den Veränderungen nach dem ersten Weltkrieg nicht fertig geworden ist: der verlorene Krieg, der Versailler Vertrag, die kommunistische Revolution mit der Räterepublik, die neue Republik und der Verlust der alten Werte. War er nach dem Ende des ersten Weltkriegs und der alten Monarchie in eine schwere Depression hineingeglitten wie andere Literaten und Zeitchronisten auch? „Alles, was ich so liebte, ist im Untergang. Was dem Leben Sinn und Schmuck gab, was an seinem Platze dem Ganzen diente, sinn- und zwecklos geworden im wüsten Haufen“. Möglicherweise ließ ihn die Ahnung eines nahen Todes alle Vorsicht und Rücksichten außer acht lassen.

Zur selben Zeit, als Thoma auf diese Weise politisch mit der deutschen Regierung ins Gericht ging, gelangen ihm die letzten großen Dichtungen, so der dritte Bauernroman, „Der Ruepp“. Er begann ihn am 4. Januar 1921 und schloss ihn schon am 22. April desselben Jahres ab. Hier setzte Thoma die These um: Der Zusammenbruch eines Staates oder eines bäuerlichen Anwesens ist die Folge von persönlicher Schuld und ist auf den Leichtsinn, die Unfähigkeit und Realitätsverweigerung der verantwortlichen Männer zurückzuführen. Eben dies wollte er in den seriösen politischen Artikeln im Miesba-cher Anzeiger, die er ja ebenfalls geschrieben hat, und gleichzeitig in der Dichtung ausdrücken. Diese literarische und journalistische Produktion gehört zu seinen gültigen Leistungen. Darin wie auch in seiner gesamten vorausgehenden Dichtung findet sich nichts, was einem manifesten Antisemitismus zuzurechnen wäre, da ist eher das Gegenteil der Fall. So prangerte er in der Komödie „Das Säuglings-heim" (1913) den historisch nachprüfbaren Antisemitismus der bayerischen Ministerialbürokratie an; das Stück ist heute weitgehend unbeachtet. Thomas ungeliebter Kollege Josef Ruederer nannte ihn deshalb einen „getreuen Judenknecht".

Thoma besaß viele jüdische Freunde und eine jüdischstämmige Freundin. Die evangelisch getaufte Maidi von Liebermann hatte einen jüdischen Vater und machte Thoma seine antisemitischen Anwand-lungen zum Vorwurf. Drei Wochen vor dem Tod setzte Thoma Maidi zu seiner „Haupterbin“ ein. Das schloss das Anwesen auf der Tuften und die Einkünfte aus dem schriftstellerischen Werk ein. Die Urheberrechte erloschen erst 1991 - siebzig Jahre nach Thomas Tod. Diese Einnahmen gingen in die Millionen und sicherten Frau von Liebermann schon unmittelbar nach der Inflation von 1921/23 ein sehr hohes Einkommen - auch in den Jahren der Wirtschaftskrise. Dass Maidi von Liebermann praktisch unbehelligt die nationalsozialistische Verfolgung der Juden überstand, schrieb sie selbst der Aura zu, die von dem Namen Ludwig Thoma ausging. Ihr Bruder Alfred Feist-Belmont wurde noch im März 1945 ins Konzentrationslager gebracht und kam dort um.

Mehrere Autoren haben sich mit Ludwig Thoma befasst, haben seine Person und sein Werk nach allen Regeln der Kunst zerpflückt und zum Teil schwere Anschuldigungen erhoben. Die Sittenwächter haben zurückgeschlagen und Schulen und Straßen, die nach ihm benannt sind, dürfen seinen Namen nicht mehr tragen. Es wird nicht nur die Person Thomas beschädigt, sondern sein ganzes literarisches Werk wird zunichte gemacht, ohne dass sich der Betreffende verteidigen kann.

Egal, was letzten Endes von den Vorwürfen gegen Ludwig Thoma übrig bleibt, man sollte ihn nach 100 Jahren in Frieden ruhen lassen, wie dies viele andere berühmte Deutsche, die ähnlichen Vorwürfen ausgesetzt sind, auch dürfen.